Ein Mann mit Erfahrung

Unsere moderne Gesellschaft hat sich in vielerlei Hinsicht sehr verändert. Es war früher gang und gäbe und auch völlig selbstverständlich, dass ein Mensch im Laufe seines jahrzehntelangen Berufslebens viele Erfahrungen machte, die auch der Arbeitgeber sehr geschätzt hat, weil dadurch bestimmte Anfängerfehler, die im Betrieb immer mit Kosten verbunden sind, nicht mehr gemacht wurden. Daher war es absolut normal, dass ein Mitarbeiter nach 5, 10 oder 20 Jahren zum Vorarbeiter wurde und einen mehr oder weniger grossen Trupp von Leuten anführte. Die Arbeitnehmer mussten auch keinen Antrag auf Höhergruppierung stellen, weil sie der Meinung sind, höherwertige Tätigkeiten auszuüben, was dann eine Kommission für Arbeitsplatzbewertung in Gang setzte, die formal die Arbeitsplatzbeschreibung überprüfte. Nein, ganz im Gegenteil, der Arbeitgeber hatte ein Auge auf seine Mitarbeiter und konnte sehr wohl beurteilen, ob sich der Eine oder der Andere gut entwickelte. Dann ging er auf seinen Mitarbeiter zu und fragte ihn völlig unabhängig von Ausbildung und Zeugnissen, ob jener sich wohl diese oder jene zusätzliche Aufgabe selbst zutrauen würde. Das war gelebte Personalentwicklung, und bei Eignung fackelte der Arbeitgeber auch nicht lange mit einer Lohnerhöhung, die war dann eben da.

 

Verdammt zum ewigen Lernen

Wer früher eine Lehre als Rohrleger machte, lernte sehr früh die wichtigsten Werkzeuge, Rohrdurchmesser und Gewinde kennen, sodass er mit diesen Kenntnissen sein ganzes Leben lang seinen Beruf ausüben konnte. An besonderen Problemfällen, z. B. auch bei Brunnenbohrungen machte er dann ganz spezielle (hydrogeologische) Erfahrungen, die ihn sozusagen im Sinne eines Profis aufwerteten. Heute hat das alles keinen Wert mehr. Die sogenannten Innovationen werden in industriellem Massstab so schnell in Softwareanwendungen umgesetzt, dass heute ausschliesslich computeraffine Menschen eine Chance auf einen gut bezahlten Job haben. Fast täglich werden neue Betriebssysteme, Datenbanken, Programmiersprachen, Skriptsprachen in Umlauf gebracht, dass auf diese Weise eine stetige Sammlung von Berufserfahrungen nicht mehr möglich ist. Die Berufswelt gehört heute allein den frischen Studienabgängern, die gerade gefüttert worden sind mit den angesagten Softwarelösungen. Sie sind dann dazu verurteilt, täglich am Ball zu bleiben, jede Woche die sieben wichtigsten Computerzeitschriften zu lesen, zu verstehen und sich das auch alles merken zu können. So geht heute lebenslanges Lernen.

 

Was passiert mit den älteren Arbeitnehmern?

Das so viel beschworene lebenslange Lernen ist eigentlich widernatürlich, wird aber heute von allen Arbeitnehmern gleichermassen verlangt. In der Folge resignieren immer mehr Ältere, weil sie es spüren, dass sie nicht mehr hinterher kommen. Dienst nach Vorschrift ist dann noch die mildeste Form der Auswirkung. In vielen Betrieben wurde inzwischen ein Gesundheitsmanagement eingeführt, nicht zuletzt deshalb, weil festgestellt wurde, dass es da eine eklatante Zunahme psychischer Erkrankungen in den Betrieben und Behörden gibt. Die ständige Überforderung durch Anforderungen, die ältere Menschen nicht mehr erbringen können, ist ein ganz wesentlicher Grund dafür. Und im Moment erleben wir ja nur den Anfang dieser fatalen Entwicklung. All die jungen Studienabgänger, von denen anfangs die Rede war, werden auch mal ältere Leute sein, und dann wird es Betriebssysteme und Computer auf Basis biologischer neuronaler Netzwerke geben, die diese eigentlich doch recht intelligenten Menschen dann auch nicht mehr so recht verstehen können. Es wird nun nie wieder eine Generation geben, die im Laufe von Jahrzehnten Berufserfahrungen ansammelt, die ihnen einen stetigen Aufstieg in ihrer Karriere bereitstellt, was normal wäre. Bald wird der Dreissigjährige zum "Alten Eisen" gehören, weil der Zwanzigjährige dem Betrieb einen hundertfachen Mehrwert bringt.

 

Eine philosophische Frage

Wir müssen es tatsächlich endlich einmal wagen, die Frage zu stellen: "Was ist Fortschritt?", oder: "Welchen Fortschritt brauchen/wollen wir?" Rasant ansteigende Umsetzungen technischer Innovationen mit all den denkbaren wirtschaftlichen Gewinnen haben sicherlich ihren Reiz, aber unsere Mentalität, unser Auffassungsvermögen, unsere emotionale Ausstattung haben sich eigentlich seit 10.000 Jahren nicht verändert, der beste Beweis dafür ist, dass wir heute immer noch Kriege führen, obwohl wir doch so schlau sind. Hier tut sich wirklich ein Abgrund von Diskrepanz auf, den niemand sehen will, dem niemand etwas entgegensetzt. Ohne konzertante Konzeption bzw. Ziel darüber, wohin die moderne Gesellschaft sich eigentlich entwickeln will, stochern wir nur wie ein Zauberlehrling in Wespennestern herum und schaffen uns mit jeder Aktion immer mehr Probleme.

Bildquelle: Thomas Kölsch / pixelio.de

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